Viktorianischer Fahrradpullover gestrickt mit zeitgenössischer Anleitung
Bei meiner Recherche zur Mode des späten 18. Jahrhunderts bin ich durch Zufall auf eine digitalisierte, doch originale Anleitung für einen viktorianischen Fahrradpullover gestoßen. Ich bin schon seit Jahren ein großer Fan der schmalen Taille und voluminösen Ärmel der späten viktorianischen Mode. Da ich auf der Suche nach einem Strickprojekt war, entschied ich mich für diesen Pullover.
Die Merkmale eines viktorianischen Fahrradpullovers
Sport und Freizeit wurden erst Ende der viktorianischen Ära zur Normalität und damit kam der Bedarf für diese Pulloverart auf. Der Fahrradpullover wurde ebenso zum Golf- oder Tennisspielen getragen. Die Pullover waren häufig cremefarben oder mit farbigen Streifen gestaltet. Die verwendeten Strickmuster sollten einerseits optisch ansprechen und andererseits die Form des Pullovers stabilisieren.
Neben den Anleitungen für handgestrickte Pullover gibt es Quellen, die darauf hinweisen, dass diese auch maschinell gefertigt wurden. Wichtig war für Zeitgenossen, dass die Etikette gewahrt wird und die weibliche Erscheinung erhalten bleibt, so auch die damals typische Silhouette.1 Auffällig sind vor allem die voluminösen Keulenärmel mit den eng anliegenden Ärmeln am Unterarm sowie die betont schmale Taille.
Die Anleitung für den Fahrradpullover
Dank der verschiedenen digitalen Archive, ist es heutzutage relativ mühelos möglich, verlässliche historische Quellen für die Fertigung von Kleidung zu finden. Zumindest was die Mode des späten 18. Jahrhunderts betrifft.
In diesem Fall habe ich die Anleitung aus dem Buch“Fancy and Practical Knitting”. Diese Anleitung entspricht außerdem dem im Metropolitan Museum of Art ausgestellten Fahrradpullover.
Ich habe mich so nah wie möglich an den Vorgaben orientiert, auch wenn dies auf Grund der Differenz zwischen damaligen und heutigen Angaben zum verwendeten Material teilweise schwierig ist. Statt an den Gewichtsangaben für das Garn habe ich mich an einer Maschenprobe orientiert und das von mir ausgewählte Garn entsprach glücklicherweise fast genau der Vorgabe. Es waren acht Maschen pro Inch vorgeben und meine Probe war neun Maschen breit.
Ein weiterer Punkt, der die Rekreation von historischer Strickkleidung mitunter erschwert, ist die Tatsache, dass sehr feine Stricknadeln nicht mehr ohne weiteres zu kaufen sind. Die Anleitung gibt an der Taille und am unteren Teil der Ärmel „feine Stahlnadeln“ vor. Die etwas größeren Nadeln, die für den Rest des Pullovers verwendet werden, sind No 12 Nadeln, umgerechnet 2mm. Damit sind die feinen Nadeln vermutlich 1mm dick.
Ich habe verschiedene Läden und Onlineshops nach Nadeln dieser Stärke durchsucht und bisher keine gefunden. Glücklicherweise hatte eine Freundin die Stricknadeln ihrer Großmutter aufbewahrt. Darunter waren 1mm dicke Nadeln und sie hat sie mir für das Projekt geliehen. Damit konnte ich mich in großen Teilen an die Anleitung halten und musste nur geringe Änderungen vornehmen.
Änderungen zur ursprünglichen Anleitung
Da mein Brustumfang mit 37 Inch nicht den vorgegebnen 34 Inch entspricht, habe ich die zusätzlich benötigten Maschen berechnet. Die größere Maschenzahl pro Inch floss zusätzlich in meine Berechnung der anzuschlagenden Maschen ein. Leider ist mir beim ersten Strickversuch einen Rechenfehler unterlaufen, den ich nicht mehr nachvollziehen kann. Dies hatte zur Folge, dass der Pullover deutlich zu klein war.
Ich habe dies erst nicht wahrhaben wollen, dachte, der Pullover soll figurbetont sein und habe bis auf Brusthöhe weiter gestrickt. An der Brust wurde deutlich, dass dies nicht sein kann und der Pullover zu klein ist. Deshalb habe ich die ganze Arbeit wieder aufgetrennt und bin im Nachhinein froh darüber. Beim zweiten Anlauf habe ich mehr Maschen angeschlagen und außerdem einen Musterfehler der mir in der ersten Version unterlaufen war behoben.
Das verwendete Garn
Der neu gestrickte Pullover passt dank der Korrektur deutlich besser und ist, obwohl größer, immer noch tailliert. Allerdings musste ich ein weiteres Problem lösen. Ich hatte mich entschieden feines handgefärbtes Merinogarn aus meinem Vorrat zu verwenden und blauäugig angenommen, dass 200g bei so einem feinen Garn genug sein werden. Dies war nicht der Fall. Mit den 200g habe ich nur den Körper des Pullovers fertigstellen können. Die für die späte viktorianische Mode so typischen Keulenärmel brauchen viel Material. So auch hier, beide Ärmel wiegen insgesamt 360g und damit mehr als der Körper des Pullovers.
Glücklicherweise hatte meine Mutter das Garn gefärbt und konnte mir weitere Stränge nachfärben. (Das Garn, dass ich verwendet habe findest du, in anderen Farben, im Shop meiner Mutter.)
Ein Aspekt das Handfärbens ist jedoch, dass Färbepartien oft voneinander abweichen, da die Umsetzung nie identisch ist. Dies hatte zur Folge, dass mein Pullover leicht andersfarbige Ärmel hat. Damit das nicht zu auffällig ist, habe ich an den oberen Teilen der Ärmel gleichmäßig Reihen mit dem Rest des vorherigen Garnes eingearbeitet. So ist der Übergang vom Körper zu den Ärmeln fließender und weniger offensichtlich.
Die Umsetzungen des Strickpullovers
Durch das Rippenmuster schmiegt sich der Pullover an den Körper an und die Taille wird durch die kleineren Maschen und damit etwas stabilere Struktur betont. Und das, obwohl Vorder- und Rückenteil als Rechtecke ohne Armloch gearbeitet sind.
Genau an dieser Stelle würde ich eine kleine Änderung vornehmen, falls ich noch einmal einen Fahrradpullover stricke. Es ist viel Material an den Schultern vorhanden, dass dafür sorgt, das die Ärmel nach unten gezogen werden und nicht auf den Schultern aufsitzen. Dies könnte durch das einfügen von Armlöchern geändert werden.
Die Ärmel sind ebenfalls Rechtecke, die sich allerdings nach unten hin verjüngen. Zunächst stellte mich das vor die Frage, wie diese an den Körper angesetzt werden. Doch nach mehrfachem Lesen der Anleitung erschloss sich mir dies. Die obere Kante der Ärmel wird ausgehend von der Mitte in Falten gelegt und mittig an der Schulternaht angesetzt. Von dort aus werden die Seitenteile in die Armlöcher eingenäht und der Rest des Ärmels nach unten hin geschlossen.
Dieser Schritt ist in meinem Fall nicht notwendig gewesen, da ich sowohl Körper, wie auch Ärmel größtenteils in der Runde und nicht mit offenen Kanten gestrickt habe. Auf diese Weise konnte ich Nähte vermeiden, die ich persönlich in Gestricken nicht ansprechend finde. Dies entspricht zwar nicht der historischen Vorgehensweise, da zu dieser Zeit keine Rundstricknadeln existierten, doch hier entscheide ich mich oft für meine ästhetischen Vorlieben.

Meine Farbwahl für Pullover und Knöpfe
Ebenso entscheide ich oft bei den Farben. Anders als die Quellen implizieren habe ich mich für ein leuchtendes Violett als Hauptfarbe entschieden. Vor allem da das Garn in meinem Vorrat lag, aber auch weil ich diese leuchtende Farbe unglaublich schön finde. Die messingfarbenen Knöpfe sind kleine leuchtende Farbtupfer und runden das Bild in meinen Augen ab. Die Kombination von Violett und Gold sollte so subtil und trotzdem leuchtend wie möglich sein.
Mein Fazit zur Umsetzung und Tragegefühl
Insgesamt bin ich mit der Umsetzung des Pullovers, trotz kleinerer Verbesserungsmöglichkeiten, sehr zufrieden. Die Anleitung war leicht zu befolgen, obwohl gewisse Kenntnisse der angewendeten Techniken vorausgesetzt werden. Die Arbeitsschritte erschlossen sich in der Regel im Laufe der Umsetzung.
Der Pullover ist so bequem, dass ich ihn vermutlich oft im Alltag tragen werden, denn selbst ohne Korsett schmiegt er sich eng an den Körper und formt so eine schmale Taille. Zunächst dachte ich, dass die Ärmel schwer und damit unpraktisch sind, aber da sie am Unterarm eng anliegen stört dies im Alltag nicht.
Von Vorteil ist vermutlich das feine Garn, denn dadurch ist der Pullover relativ leicht und zieht sich nicht durch das eigene Gewicht nach unten. Bei manchen Rekreationen dieses Pullovers ist mir aufgefallen, dass das Gestrick durch das eigene Gewicht an der Knopfleiste auseinandergezogen wird. Bei meinem Pullover ist dies nicht der Fall und das, obwohl an den Schultern etwas zu viel Material vorhanden ist. Dies kann möglicherweise ausgefüllt werden, wenn ein Leibchen über dem Korsett getragen wird, doch das muss ich erst noch fertig stellen.
1 Weitere Quellen: Illustrierte Frauenzeitung (Deutsch)
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